Ratgeber

Tragen als Therapie

Kathrin Muysers (km) · 17.11.2017

Das Tragen von Babys ist mehr als eine bloße Lifestyle-Entscheidung. Bei manchen Behinderungen kann es die erste Form einer Therapie darstellen.

Miriam und Konrad machen sich fertig, um zum Kindergarten zu gehen. Genauer gesagt, holt Miriam Jacken, Mützen und Schuhe für sich selbst und ihren Zwillingsbruder. Der wie so oft nicht auffindbar ist, weil er sich in einem unbeobachteten Moment mal wieder aus dem Staub gemacht hat. Inzwischen hat Mama Conny Konrad gefunden und hilft ihm beim Anziehen, während Miriam bereits angezogen wartet. Conny erzählt: “Wenn mir vor ein paar Jahren jemand gesagt hätte, dass ich dem frechen Kerl“ – hier knufft und neckt sie Konrad liebevoll – „ständig hinterherrennen muss, hätte ich demjenigen einen Vogel gezeigt.“

Ihre späte, erste Schwangerschaft schien  die Erfüllung eines langgehegten Traumes für Conny und Ehemann Harald. Doch bei einer Routineuntersuchung wurden die Eltern mit der Diagnose konfrontiert, dass sie nicht nur Zwillinge bekommen würden, sondern das der Junge mit dem Down-Syndrom zur Welt kommen würde. Das Mädchen hingegen wies keine Auffälligkeiten auf.
Conny ist Schulrektorin und als solche eine pragmatische Natur. Als gläubige Christin brauchte sie nicht lange, um die Frage eines Schwangerschaftsabbruchs mit Nein zu beantworten. Aufgrund der frühzeitigen Diagnose hatte sie Zeit, sich mit der Situation auseinanderzusetzen – und sich von Anfang an Hilfe zu holen.

Training für Downies: Tragen särkt den Muskeltonus

Eine der häufigsten Beeinträchtigungen von Kindern mit Down-Syndrom stellt ihr niedriger Muskeltonus dar. Vereinfacht gesagt, verfügen sie nicht über genügend Körperspannung, was das Stehen und Laufen Lernen erschwert. Von einer befreundeten Hebamme erfuhr Conny, dass das Tragen gerade für solche Kinder frühzeitig Weichen stellen kann. Die Familie ließ sich von einer speziellen Physiotherapeutin und einer spezialisierten Trageberaterin beraten und nutzte von nun an bei jeder Gelegenheit ein Tragetuch. Da Konrad ein kleines, zartes Baby war und außerdem einen Herzfehler besitzt, war es wichtig, das Tuch nicht zu fest zu binden, um zusätzliche Risiken zu vermeiden. Einen schönen „Nebeneffekt“ hatte das Tragen auch: durch das gleichberechtigte Tragen konnte Harald, der seinem Sohn anfangs unsicher bis ablehnend begegnet war, weil ihn die Diagnose der Behinderung schlichtweg überfordert hatte, eine enge, liebevolle Bindung aufbauen. Merkwürdigerweise hatte Harald Hemmungen, wenn Bekannte in den Kinderwagen schauten und überraschte Gesichter machten. Trug er sein Söhnchen an sich geschmiegt, „war es mir schnuppe, was die Leute dachten, wenn sie ins Tuch hineinlinsten.“

Die Bad Friedrichshaller Kinderphysiotherapeutin und physiotherapeutische Heilpraktikerin Birgit Kienzle-Müller gilt als eine Vorreiterin des Tragens als Therapie. Sie nennt verschiedene Faktoren, die für die positive Wirkung ausschlaggebend sind. Menschliche Säuglinge gelten, wie einige Affen, als sogenannte „Traglinge“. Hochgehobene Neugeborene verfallen instinktiv in die Anhock-Spreizhaltung, mit der sie enger am Körper des Trägers anliegen. Dort nehmen sie über Spiegelneuronen die Bewegungen des Trägers war und ahmen die Rotationsbewegungen nach. Ihr Gleichgewicht wird gestärkt; sie verbessern ihre Koordination und entwickeln Kraft und Ausdauer. „Allerdings“, so Kienzle-Müller, „reicht das Tragen alleine als Therapie nicht aus. Aber es kann in bestehende Therapiekonzepte, z. B. nach Bobath und Vojta, eingebunden werden.“

Neben diesen angeborenen Behinderungen, die durch Vererbung bzw. chromosomal bedingt sind, kann das Tragen auch bei erworbenen, also während der Geburt widerfahrenen „Schädigungen“ unterstützen.

Eine, die sich damit bestens auskennt, ist Eva Vogelgesang. Die Fachkinderkrankenschwester entwickelte zunächst während ihrer Jahre auf der neonatologische Intensivstation am Stuttgarter Olgahospital eine Art Best Practice, um das Tragen von Frühchen und sehr kleinen Neugeborenen als Therapieform zu etablieren. Inzwischen leitet sie die Kinderintensivstation des Klinikums Saarbrücken und trägt von dort aus das so simple wie komplexe Wissen um das Tragen weiter. Denn die erfahrene Kinderkrankenschwester hatte schon bald frühzeitig wahrgenommen (was schließlich auch durch Studien belegt wurde), dass die Schmerzempfindlichkeit getragener Frühchen z. B. bei den Blutentnahmen, die sie als Teil ihres Monitorings routinemäßig über sich ergehen lassen müssen, sinkt, wenn sie dabei getragen werden. Natürlich gab es anfänglich Bedenken, ob es für die mit Schläuchen und Sensoren versehenen Frühchen kein unverantwortbares Risiko darstellt, wenn sie sich außerhalb der Sicherheit ihrer Brutkästen befinden.

Fürsorge für Frühchen: Kuscheln wie die Kängurus

Hier half das sogenannte Kängurutuch – eine ebenso schlichte wie geniale Erfindung. Denn ein herkömmliches Tragetuch wäre auf einer Frühgeborenenstation nicht geeignet gewesen. Die Lösung bestand in einem mit einem Tragetuchhersteller entwickelten Stoffschlauch, in den jedweder Elternteil schlüpfen kann, um das Kind sicher, warm und vor allem geborgen am Körper zu tragen. Denn dort hört es den vertrauten Herzschlag und nimmt den körpereigenen Duft der Eltern war. Und was wäre für Kinder gerade in jener stressvollen Zeit nach einer oft traumatischen Geburt und einem schwierigen Start ins Leben beruhigender, als der Kontakt von Haut zu Haut? Um die empfindlichen Winzlinge nicht zu erschrecken, mussten die Tücher geräuscharm zu öffnen sein; um die Kabel nicht zu gefährden, fest zu schließen.

Vor der Entwicklung des Kängurutuchs mussten die Mütter oft in wenig gemütlichen Räumen in unbequemenen Positionen verharren – auf Dauer ein unzumutbarer Zustand. Denn der Stress übertrug sich auf die Säuglinge, die sich wiederum verkrampften. Heutzutage sind alle, vom medizinischen bis zum Reinigungspersonal instruiert, die Zweisamkeit möglichst nicht zu stören. Dank dieser Innovationen konnte übrigens auch mit einem anderen Ammenmärchen aufgeräumt werden: dass nämlich Frühchen nicht gestillt werden können. Wie es die ehemalige Frühchen-Mutter Eva dankbar schildert: „Viele Maßnahmen im Krankenhaus sind nicht unbedingt förderlich zum Aufbau einer erfolgreichen Stillbeziehung. Dass sich meine beiden Jungs trotz der extremen Frühgeburtlichkeit so gut und problemlos entwickeln, verdanken wir sicher nicht zuletzt dem Stillen und damit Frau Vogelgesang.“

Buchtipp:
Birgit Kienzle-Müller, Sabine Hartz, Ulrike Höwer. Babys im Gleichgewicht. Geborgen und getragen im ersten Lebensjahr. Das Buch schildert sieben Meilensteine, die besonders anstrengend für Eltern sind, bei denen man mit Tragen und Handling diese Entwicklungsschritte meistert. Erschienen im Oktober 2017.
ISBN 9783437452277
29,99 Euro

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