Kaleidoskop

Der ADFC-Klimatest

Adina Schütze (as) · 26.05.2019

Fotos: ADFC

Fotos: ADFC

Jeder ist sich selbst der Nächste - diese Einstellung zeigt sich besonders häufig im Straßenverkehr. Da schimpfen Autofahrer auf Radfahrer, Radfahrer auf Autofahrer und Fußgänger sind sowieso das schwächste Glied in der Kette. Dass gegenseitige Rücksichtnahme den Verkehr für alle entspannter machen würde, kommt im Eifer des Gefechts oft nur wenigen in den Sinn. Wie brenzlig die Lage besonders für Radfahrer in Dresden ist, hat nun der Klimatest des ADFC bestätigit.

Martins Fahrrad hängt an der Wand – im Wohnzimmer. Ein Schloss besitzt er nicht. „Warum auch, zum Bäcker fahre ich selbstverständlich mit dem Auto. Das Fahrrad ist ein Sportgerät.“ Als mein Bekannter mir das erzählte, war ich, gelinde gesagt, überrascht. Nicht nur, weil Martin seinen Lebensunterhalt mit dem Verkauf von Fahrrädern verdient, sondern weil MEIN Fahrrad ein Nutztier ist und oft draußen stehen muss, der Sport kommt nebenbei. Ein Auto habe ich übrigens nicht, ich fahre mit den „Öffentlichen“ und gehe unheimlich gern zu Fuß, vor allem mit den Kindern. Mein Nachbar Stefan lebt – wie Martin – vom Fahrrad. Er macht Marketing bei Little John Bikes und ist, nebenbei gesagt, der sportlichste Mensch, den ich kenne. Er hängt sein Fahrrad auch an die Wand – aber nur das, mit dem er Sport macht. Denn seinen Alltag bestreitet er per Zweirad. Dafür nutzt er ein 20 Jahre altes Klappergestell, dessen sportliche Gene man ihm noch ansieht, und das noch sicher genug ist, um zwei Kinder in die Kita und auch sonst überall hin zu bringen. Das Auto lässt Stefan in der Regel stehen.

Diese kleine Typologie soll zeigen: DEN Radfahrer gibt es nicht. Bei der aktuell wieder hitzig geführten Debatte um Platzansprüche im Verkehr kann man sich des Eindrucks allerdings nicht erwehren, jede Partei würde IHRE Interessen eindeutig vertreten: „Die Fahrradfahrer“ brauchen radikal mehr Platz, aber bitte ohne DIE „Autofahrer“ zu behindern. Die Straßenbahn hat ohnehin Vorrang. Soll der Fußgänger sehen, wo er  bleibt?! Streng genommen sind doch die Meisten von uns ein bisschen multimobil. Sollte man da nicht auf mehr Kompromissbreitschaft treffen?

Warum wir diese Fragen stellen? Anlass sind die aktuellen Aktivitäten des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs: Klimatest,  MehrPlatzFürsRad-Kampagne und die MehrPlatzFürsRad-Sternfahrt in Dresden am 12. Mai, um nur Einige zu nennen. In den Vorstellungen zur Mobilität der Zukunft ist buchstäblich Bewegung drin. „Wir haben 12 Prozent Wachstum an Mitgliedern. Das zeigt uns deutlich das hohe Interesse am Radfahren. Es spiegelt auch wieder, dass viele Radfahrer der Meinung sind, es müsse mehr dafür getan werden, Radfahren angenehmer zu machen“, erklärt Konrad Krause, der Geschäftsführer des ADFC in Sachsen im Gespräch mit Kind+Kegel.

Der ADFC selbst hat schon lange nicht mehr nur die Interessen der Mitglieder im Blick. Man setzt sich spürbar dafür ein, dass alle Leute gern Rad fahren, auch die, die es im Normalfall nicht tun. Dass bundesweit die Etats für den Radverkehr steigen und es im sächsischen  Verkehrsministerium ein Referat „Radverkehr“ gibt, ist Mitverdienst des Vereins. Damit die vielen Bemühungen nicht ins Leere laufen, klopft man im zweijährigen Rhythmus bei den Bürgern auf den Busch. Als Zufriedenheits-Index der Radfahrenden in Deutschland macht der ADFC den Klimatest und fragt: „Macht Radfahren in Deiner Stadt Spaß oder ist es Stress?“

170.000 Bürger machten bei der Online-Befragung mit – 40 Prozent mehr als 2016. Der Anteil der ADFC-Mitglieder ist mit 15 Prozent gering. Mein Nachbar Stefan, dessen sechsjährige Tochter schon selbst über den Bürgersteig radelt, nimmt auch immer teil. In die Wertung gekommen sind 683 Städte und Gemeinden. Wichtigstes Ergebnis: Die Menschen haben mulmige Gefühle beim Radfahren. Nie waren Radfahrer so unzufrieden mit der Verkehrssituation wie heute, das Sicherheitsgefühl beim Radfahren sei bundesweit auf dem Tiefststand – und in den Großstädten sagten die meisten Menschen, man könne Kinder nicht mit gutem Gefühl allein Rad fahren lassen. „Die größten Sorgen bereitet mir neben den vielerorts fehlenden Radwegen vor allem das Verhalten vieler Autofahrer“, sagt Stefan.

Ganz neu beim Klimatest war 2018 der Schwerpunkt „Familien und Kinder“. Fünf Fragen bezogen sich erstmals konkret auf radfahrende Kinder im Straßenverkehr. „Die Kinderfragen sind für uns die Steigerung der Fragen im Test ohnehin“, sagt Krause. „Die Ergebnisse in Dresden sind schockierend.“ Die Frage, ob sie ihre Kinder mit gutem Gewissen allein Radfahren lassen würden, verneinten 83 Prozent der 2800 Befragten aus Dresden. 70 Prozent der Dresdner Radfahrenden sind der Meinung, dass es nicht oder nur begrenzt möglich ist, mit einem Kinderanhänger oder Lastenrad unterwegs zu sein. Selbst die Gehwege werden als unsicher eingeschätzt. 65 Prozent der Dresdner Radfahrenden finden, dass Kinder nicht sicher auf Gehwegen fahren können.

Tatsächlich sagen aber 45 Prozent, dass es (relativ) üblich ist, Kinder mit dem Rad zur Schule fahren zu lassen. Die Familienfreundlichkeit des Radverkehrs in Dresden wird insgesamt mit der Schulnote 4,19 bewertet. Bundesweit liegt dieser Wert bei 4,16. Was kommt nach dem Klimatest, der im April im Bundesverkehrsministerium vorgestellt wurde? Der ADFC startet eine bundesweite Mitmach-Kampagne #MehrPlatzFürsRad und fordert radikal mehr Platz und Qualität für den Radverkehr. Rebecca Peters, Mitglied des ADFC-Bundesvorstands, sagt: „Die Menschen in Deutschland haben das Gefühl, dass für das Rad zu wenig getan wird. Sie fühlen sich nicht sicher beim Radfahren, als Verkehrsteilnehmer nicht ernst genommen, von Falschparkern auf Radwegen behindert und durch unterdimensionierte Fahrrad-Infrastruktur ausgebremst. Deutschland braucht dringend mehr Menschen, die das Auto mal stehen lassen.“

Leitmotiv der Mitmach-Kampagne ist das orange-weiße ADFC-Flatterband, mit dem Engagierte im ganzen Land symbolisch Platz für das Rad schaffen können: unter anderem mit einem Selfmade-Radweg, wo dringend einer hin müsste, oder einer Poolnudel-Demonstrationsfahrt, um auf den nötigen Abstand beim Überholen aufmerksam zu machen. Bei Facebook, Instagram und Twitter sind unter dem Hashtag  #MehrPlatzFürsRad Selbstporträts mit Flatterband gefragt.

Kategorien: Kaleidoskop , Unterwegs mit Kind

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